Ein Plädoyer für eine Gesellschaft der Solidarität
Die Werte des Martinsfestes
In einer Welt, die oft vom Individualismus geprägt ist, erinnert uns das Martinsfest an die Bedeutung von Gemeinschaft und Teilen. Jedes Jahr aufs Neue erzählen wir die Geschichte von Sankt Martin, dem römischen Soldaten, der seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilte. Diese einfache Geste der Nächstenliebe trägt eine zeitlose Botschaft in sich:
Es ist wichtig, anderen zu helfen.
Wir sollten barmherzig und mitfühlend sein.
Selbstlosigkeit und das Opfern für andere sind Tugenden, die wir hochhalten sollten.
Teilen hilft uns allen und tut niemandem weh.
Doch wie oft leben wir diese Werte tatsächlich im Alltag? Gerade beim Martinsfest fällt auf, wie die ursprüngliche Idee des Teilens manchmal in den Hintergrund tritt. Jedes Kind bekommt seinen eigenen Weckmann, individuell verpackt und hygienisch einwandfrei. Doch gibt es nicht auch andere Wege, den Geist des Teilens zu feiern?
Martinsfest in der Kita: Teilen im Mittelpunkt
In der Kita meines Sohnes wird das Martinsfest auf besondere Weise gefeiert. Schon Wochen vorher beginnen die Vorbereitungen. Es wird nicht nur gemeinsam gesungen und gebastelt, sondern auch gebacken. Eltern, Großeltern, Geschwister – alle sind eingeladen und werden gebeten, etwas zum Fest beizutragen: Obst, Gemüse, Getränke und natürlich Weckmänner.
Der Höhepunkt ist das gemeinsame Teilen der selbstgebackenen Weckmänner. Ich erinnere mich noch gut an das Strahlen in den Augen der Kinder, als sie die großen, duftenden Weckmänner gemeinsam anschnitten und miteinander teilten. Es war ein Bild der Freude und des Zusammenhalts, das mich tief berührt hat. Diese Erfahrung des Teilens, die ich in der Kita meines Sohnes beobachten durfte, hat mir wieder bewusst gemacht, wie bereichernd es ist, durch das Teilen Freude und Verbundenheit zu schaffen – Werte, die ich auch meinen Kindern weitergeben möchte.
Warum mir Teilen so wichtig ist
Ich teile gerne. Tatsächlich widerstrebt es mir zutiefst, dass in unserer Welt fast alles über Geld und Tauschhandel läuft. Ich finde den Gedanken, für das, was ich tue, Geld zu nehmen, oft schwierig. Vielleicht liegt es daran, dass ich durch die Firma meines Vaters die Mechanismen des Kapitalismus von klein auf kennengelernt habe. Sein Leitspruch war: „Money is the Blood of the World, let it flow freely“ (Geld ist das Blut der Erde, lasst es frei fließen). Doch mir läuft dieser Gedanke zuwider. Es gibt nichts mehr in dieser Welt, das nicht monetarisiert wird; alles wird in Geld und monetärem Wert gemessen. Wir haben die Welt um das Geld gebaut, statt das Geld um die Welt.
Ich bin auf der Suche nach Möglichkeiten, das in meinem Leben anders zu machen. Deshalb habe ich meinen Kindern von Anfang an das Teilen beigebracht, noch bevor sie sprechen konnten. Allem voran das Teilen von Essen. Wir leben in Deutschland, einem Land, in dem die meisten Menschen ausreichend Zugang zu Lebensmitteln haben. Niemand muss hier Hunger leiden. Trotzdem gibt es Menschen, die nicht genug haben: Kinder, die ohne Frühstück in die Schule gehen, Obdachlose, die sich kein Essen leisten können. Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass es uns nicht schadet, wenn wir teilen.
Mir ist es wichtig, dass meine Kinder teilen lernen. Denn erst durch das aktive Teilen erkennen wir, wie viel wir eigentlich gar nicht brauchen. Und wir erfahren, wie schön es ist, etwas von sich selbst abzugeben, um es einem anderen Menschen zu schenken.
Alternative Konzepte zur Tauschlogik
Die Idee des Teilens geht weit über individuelle Nächstenliebe hinaus. Sie kann die Grundlage für eine ganz andere Art des Wirtschaftens und Zusammenlebens sein. Die Volkswirtin Friederike Habermann plädiert für eine Gesellschaft, die auf bedingungsloser Kooperation und Solidarität basiert, statt auf Leistung und Gegenleistung. Sie zeigt verschiedene alternative Ansätze auf, wie diese Prinzipien gelebt werden können.
Commons-Bewegung
Stell dir eine Stadt vor, in der es keine privaten Supermärkte gibt, sondern Gemeinschaftsgärten, in denen alle mitarbeiten und die Ernte teilen. Das sind die Commons: gemeinschaftlich genutzte Ressourcen, die zum Wohl aller verwaltet werden. Commons können ganz unterschiedliche Formen annehmen: von öffentlichen Bibliotheken über Open-Source-Software bis hin zu Gemeinschaftsprojekten wie Urban Gardening.
Ein Beispiel, das sich bereits in vielen Städten etabliert hat, ist die Lebensmittelrettung durch Foodsharing. Hierbei werden überschüssige Lebensmittel an die Community verteilt, um Verschwendung zu vermeiden und Menschen zu versorgen. Commons bieten eine Alternative zum Besitzdenken und fördern stattdessen ein Modell des Gebens und gemeinsamen Nutzens.
Peer-to-Peer-Netzwerke
Ähnlich wie die Kinder in der Kita Weckmänner teilen, funktionieren Peer-to-Peer-Netzwerke und Open-Source-Projekte auf der Basis freiwilliger Kooperation. Projekte wie Wikipedia oder Linux zeigen, wie erfolgreich solche Kooperationen sein können, auch ohne klassische Bezahlung. Über digitale Plattformen wie Kleiderkreisel oder Foodsharing werden Ressourcen effizienter genutzt und an Bedürftige weitergegeben.
Ein praktisches Beispiel ist das Konzept des Repair-Cafés. Hier reparieren Ehrenamtliche gemeinsam mit Besuchern kaputte Geräte, anstatt diese wegzuwerfen. Das spart Ressourcen und schafft gleichzeitig eine Gemeinschaft, die auf Wissensaustausch und gegenseitiger Hilfe basiert. Peer-to-Peer-Netzwerke bieten damit nicht nur praktische Vorteile, sondern auch eine alternative Lebensweise, die den Wert von Kooperation über individuellen Gewinn stellt.
Degrowth
Weniger ist mehr! Degrowth stellt das ständige Streben nach Wachstum infrage und setzt auf Subsistenz und Selbstversorgung. Degrowth fördert gemeinschaftliche Initiativen wie Gemeinschaftsgärten oder Repair-Cafés, in denen Gegenstände gemeinsam repariert werden. Der Gedanke ist, dass wir durch weniger Konsum und nachhaltige Praktiken gesünder und zufriedener leben können.
Beispielsweise könnte eine Nachbarschaft gemeinsam einen Gemeinschaftsgarten pflegen, um frisches Gemüse anzubauen und zu ernten. Das stärkt nicht nur die Beziehungen, sondern ermöglicht es den Bewohnern, gesunde, lokale Lebensmittel zu genießen. Degrowth bedeutet dabei nicht Verzicht, sondern eine bewusste und nachhaltige Lebensweise, die Umwelt und Ressourcen schont.
Schenkökonomie
In der Schenkökonomie geht es darum, Dinge ohne die Erwartung einer Gegenleistung zu verschenken. Sie basiert auf Vertrauen und Solidarität und fördert Gemeinschaftssinn und Großzügigkeit. Ein schönes Beispiel sind „Free Stores“ oder „Give Boxes“, wo Menschen Dinge abgeben können, die sie nicht mehr brauchen, und andere diese kostenlos mitnehmen dürfen.
Auch das Konzept „Suspended Coffee“ zeigt die Kraft des Schenkens: Ein bezahlter Kaffee wird für eine bedürftige Person hinterlassen. Bei „Weihnachten im Schuhkarton“ packen Menschen Geschenke für Kinder in Not. Diese Aktionen schaffen Verbindungen zwischen Menschen und zeigen, wie einfach es ist, anderen eine Freude zu bereiten, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Schenken schafft soziale Bindungen und zeigt, dass der wahre Wert im Akt des Gebens liegt.
Fazit: Die Vision eines Lebens ohne Tauschzwang
Das Martinsfest kann uns inspirieren, über die Tauschlogik unserer Gesellschaft hinauszudenken. Es zeigt, dass Teilen und Solidarität nicht nur einmal im Jahr, sondern im Alltag gelebt werden können. Wann hast du das letzte Mal etwas mit anderen geteilt? Wie hat sich das angefühlt?
Lass uns gemeinsam kleine Schritte in Richtung einer Gesellschaft gehen, in der Kooperation und Gemeinschaftssinn im Vordergrund stehen. Das kann ganz einfach sein: einen „Suspended Coffee“ bezahlen, eine Futtertüte fürs Tierheim spenden oder bei „Weihnachten im Schuhkarton“ mitmachen. Unsere Zukunft könnte in einer Gesellschaft liegen, die auf Schenken und Commons aufbaut – in einer Welt, in der das Gemeinwohl über individuellen Gewinninteressen steht.
Wer sich intensiver mit den Möglichkeiten eines Lebens jenseits des Tauschzwangs beschäftigen möchte, kann das Buch von Friederike Habermann lesen: Ausgetauscht! Warum gutes Leben für alle tauschlogikfrei sein muss oder, falls das bevorzugt wird, auf Amazon.
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